Die Zeit, die wir haben
- irmabelic

- 15. Juli
- 3 Min. Lesezeit

Das Aufstehen war nicht einfach heute. Anne hat geträumt. Den Krimi von gestern Abend im Traum verarbeitet. Ganz klare Szenen vor Augen. Wiederholung im Kopf, nicht beunruhigend, aber ärgerlich irgendwie. Schade um die kostbare Zeit, um die Arbeit der Nacht. Der Ärger, dieser kleine, schleichende, unbestimmte, lässt sie den Kopf wenden. Sie hofft, ihr Mann würde heute aufstehen und den Kaffee machen. Er möge bitte ihre Gefühle spüren, jetzt, um sechs Uhr, nach ihrem Seufzen, als der Wecker abging. Er spürt nicht. Er schläft. Anne befällt schlechtes Gewissen, befindet sich als ungerecht, sie kann heute zu Hause bleiben, ihr Mann muss in die Firma, wird einen langen Tag haben. Anne ist trotzdem ärgerlich. Und sie ärgert sich nun auch über ihren Ärger und steht wütend auf.
„Reiß´dich doch zusammen“, hört sie sich denken. Da drückt ein Kloß aus dem Bauch, da drückt er übers Herz in die Kehle auf die Augen und da sind sie schon und drücken, die Tränen. Kaffee kochen, Brot schneiden, Butter auf den Tisch, Jausenbrot richten, Geschirrspüler ausräumen – alles lauter heute. „Liebling, du hast nicht gut geschlafen heute, hab´ ich recht?“
Jetzt fließen sie, die Tränen, ganz kurz, dann ist alles gut. Und ihr Mann umarmt Anne, sie muss nichts sagen. „Bis zum Abend, Liebling!“, sie sieht seinen Blick auf die Fotowand gerichtet. Er weiß. Er fährt.
Anne kennt ihre Wahrheit. Schlecht geschlafen, ja, aber hinter dem Krimi, da liegt etwas anderes. Sie hat die Bilder abgenommen. Gestern. Vor dem Schlafengehen hat sie die leere Wand noch einmal gesehen. Sie hat entschieden, einen Schritt gewagt. Die Fotos ihrer Töchter, als sie noch kleine Mädchen waren, die Fotos ihrer Enkelkinder, die sie nicht kennt, Anne hat sie alle abgenommen. Es hat Anne gereicht. Sie hat sie verpackt, in eine Kiste. Der Ärger von heute ist der Ärger über den Zweifel, der sie begleitet hat, sich in ihren Kopf gekuschelt hat, als sie zu Bett ging, gestern Abend. „Ist es in Ordnung, wenn ich das mache?“, Anne spricht laut mit sich, hört ja keiner. „Darf ich das? Darf ich STOPP sagen, zu diesem Umgang mit mir? Darf ich Abschied nehmen?“
„Sag´s doch einfach anders…“ ‚
Abschied nehmen‘; ‚mich verabschieden‘. Winzig kleine Unterschiede. Große Bedeutung. Sie spricht ihren Töchtern aufs Band. Sie hört es sich nochmal an. Sie spricht eine neue Nachricht, löscht die alte. Viel zu lang, viel zu viele Erklärungen, Rechtfertigungen. Ein dritter Versuch, ein vierter. Jetzt ist es gut.
„Adieu“
Das soll heißen ‚Auf unbestimmte Zeit alles Gute! Von meinen Wünschen begleitet, den unausgesprochenen, mütterlichen. Mit vollem Vertrauen. Macht es gut! Draußen, an der Türe, hängt eine Glocke. Ich weiß, dass ihr das wisst.‘
Und aus. Sie schickt die Sprachnachricht. Sie sieht zwei Häkchen, die Nachricht ist durch. Kurz verschwindet die Welt rundum. Kein Geräusch, eine Kühle im Raum, die Zeit steht still, alles ist unscharf im Blickfeld von Anne. Kein Draußen, kein Drinnen. In ihrer Hand liegt das Smartphone. Sie blockiert den Account ihrer Töchter auf allen Kanälen. Jede Handlung hat Konsequenzen. Angst? Ja. Sie spricht laut mit sich, schon wieder: „Sie kennen meine Wohnadresse. Sie kennen meine Emailadresse. Wann immer sie mich erreichen müssten, wollten, sie haben jede Möglichkeit dazu. Nachrichten, die mich erreichen müssen, werden mich erreichen. Das war schon immer so.“
„Warum hast du das gemacht?“
Anne lehnt sich zurück in ihrem Sessel. Sie fühlt eine Weite in ihrer Brust. Ein Seufzen wieder, aber anders. Als hätte sie eine Türe geöffnet. Als wäre sie über eine Schwelle getreten, in einen anderen, den 'Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben'-Raum. Als hätte sie eine andere Türe geschlossen. Ruhig, besonnen, sich noch einmal umblickend, leise, aber bestimmt hat sie eine Türe geschlossen. “Adieu.“ Angst vor der eigenen Courage, ja, das kennt Anne auch. Aber etwas ist anders diesmal. Ein klitzekleines Gefühl von Sicherheit breitet sich aus. Selbstsicherheit? Die Sicherheit, dass nichts mehr zu tun ist? Dass alles
versucht ist? Ein gutes Gefühl? Noch wackelig zwar? Schüchtern?
„Ja.“



ich muss weinen, es berührt mich so ❤️wie stark Anne doch ist ❤️