op. Blue II (heiter geht klar)
- irmabelic

- 30. Juli
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Aug.

„Es ging nur um ihn, du hast überall herumerzählt, was er alles macht.“ Die Mutter schüttelt den Kopf, nachdenklich. Und Anne stimmt insgeheim zu. Ja, das stimmt tatsächlich. Der Vater war zuständig für alles. In ihrer Wahrnehmung. Sie weiß, dass die Wahrheit eine andere ist. Sie weiß das schon immer, das ist das erstaunliche, sie weiß das nicht erst jetzt, als erwachsene Frau von 50 Jahren. Schon als Kind wusste sie, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Doch ein sehr lebendiger, sehr bestimmter, ausgeprägt trotziger Anteil in Anne stampft auf mit dem Fuß, verschränkt die Hände vor der Brust und ruft „Doch, das ist so!“
Immer noch macht das der Anteil!
Anne umarmt die Mutter, beide lächeln, der Anteil in Anne macht, was er immer macht, doch Anne betrachtet ihn liebevoll, wie ein Gemälde, ein Lieblingsbild, aufgehängt im Wohnzimmer. Die Mutter sieht vor sich wieder das Mädchen und deren Vater, sieht deren unerklärliche Verbundenheit, fühlt sich ausgeschlossen, wie damals, da ist er wieder, dieser Stachel im Herzen. Mutter und Tochter, beide wissen um die Vorgänge tief im Inneren der anderen, beide wissen um ihre verknotete Verbundenheit, gerade darum. Heute. Paradoxe Verbundenheit. Verbunden in Freiheit, verbandelt. Heute.
Der Vater ist schon lange tot.
Der Anteil in Anne reißt panisch die Augen auf, wenn er diesen Satz hört. Denkt. Gar selbst ausspricht. Einatmen! Die Luft bleibt im Brustkorb stecken, rutscht mit dem Herz in die Hosen, kein ausatmen ist möglich. Die erwachsene Anne klopft dem Anteil dann auf den Rücken, zwischen zärtlich und fest. Und dann die Hand aufs Herz. Jetzt ausatmen.
Warum das so ist, dass weiß Anne. Der Tod des Vaters kam plötzlich, völlig unerwartet, aus dem heiteren (?) Himmel. Woher kommt nun das Fragezeichen, schreckt sich Anne. Der Anteil verschränkt die Arme vor der Brust, hebt den Fuß…..,. Für einen kurzen Moment erhebt das Leben den Zeigefinger und der Anteil ruft „Du darfst das nicht!“
Anne wischt dieses Bild weg. Das geistigen Auge bleibt klar. Es ist Zeit für etwas anderes, fühlt Anne. Die Mutter ist nun eine ältere Dame. Rüstig und apart, doch innerlich weicher als früher, bedürftig, zart. Anne sieht ihre Mutter mit anderen Augen. Das hat sich entwickelt, zuerst unbemerkt, dann deutlich wahrgenommen. Da ist viel Liebe. Endlich.
Der Anteil weint.
Anne erschrickt.
Es ist ein Wagnis, den Vater mit anderen Augen zu betrachten. Es ist ein Wagnis den Anteil in Anne erwachsen werden zu lassen, ihm dabei zu helfen. Noch ist sich Anne nicht sicher, ob sie das will. Was wird dann sein?
„Verrat!“ schreit der Anteil. Und weint dann verzweifelt.
„Sei vorsichtig vor, bleib zart, bleib verletzlich.“, flüstert das Leben, den Zeigefinger erhoben zwar, doch nickend.
„Es muss jetzt sein“, denkt Anne.
Einatmen.
Ausatmen.
Ein Caterpillar steht am Straßenrand. Anne lächelt. Bedürfnisse, Wahrnehmung.
Erinnerungen!
„Es war einmal ein kleiner Caterpillar ….“
Der Anteil setzt sich. Hört zu, entspannt sich.
Und Anne erinnert sich. An ihre Lieblingsgeschichte. Sie sieht sich neben ihrem Vater, ein kleines Mädchen, der Vater, der sich Zeit nimmt, der erzählt. Die Mutter, die in der Küche klappert.
Heiter. Ja. Es wird klar.
“There is a crack in everything, that’s how the light gets in.”
-Leonard Cohen



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