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Was ein Nilpferd frisst

  • Autorenbild: irmabelic
    irmabelic
  • 13. Juli
  • 4 Min. Lesezeit
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Ich sitze im Zug und fahre zurück. Zurück nach Hause. Zurück zu Euch. 

Ich war zu Besuch.


Vier intensive Tage und immer ward ihr dabei. Alle waren dabei. Jene kleinen Kinder, die ihr wart, jene Erwachsenen, Frauen und Männer, die ihr nun seid. Die Mütter, Väter, Onkel und Tanten, die ihr seid. Meine Mutter, mein Vater, meine Großeltern beider Seiten, Euer Vater, seine Eltern und Großeltern, Geschwister, Nichten, Neffen, manche Ur- und Urur-Großeltern, von deren Leben und Geschichten ich gehört habe, die mich berühren.

Alle sind immer da, in den Gärten dieser Stadt, während wir auf der Parkbank sitzend die Fontäne betrachten. Wasser in Wiederholung. Ständig neu.


Geschichten: Ein kleines Mädchen mit schlechten Zähnen. Ein Kofferraum voll süßem Überfluss. Überbordend! Unter all dem verlockenden Kram ein Geschenk des Erkanntseins;

Ein Brot gewärmt auf dem Heizkörper. Salami und Weißbrot und die Idee von Crostini, damals! Pubertät und eine Mutter in prekärer Situation. Ein Moment Stillstand der Zeit, innig, intim, dicht. Trotzig, frech. Mama!


Die Schilderung der erlebten Erinnerung ist gewaltig, die Berührung durch sie kaum erträglich. Ewig. Liebe. Wird nie wieder gehen, ist flüchtig, ist zart, muss festgehalten werden, herausgerufen. Immer wieder. Ich höre zu, bin verbunden, bin Teil.


Noch eine Geschichte. Noch einmal Koffer, ein Reisegepäck diesmal, groß und dunkel, mit Schnallen, der geflogen kam, damals, in Begleitung, voller Überraschungen, ersehnt, erwartet!

Schon wieder Liebe, verlangte, erhoffte, erkaufte. 18:00, Lichter, Brummen, Landeklappen, Landeanflug.

Flugbegleitung, Übergabe, Lippenstiftlächeln im blauen Kostüm. Ein Kind, noch fremd für eine Sekunde, Übergabe. Mit dem Koffer und dem Kind kam der Sommer, die Dreisamkeit.

Das Kind kam jeden Sommer.

Der Koffer, der ausblieb irgendwann. 

Der Inhalt, der blieb. Stellvertretend. Die Hoffnung, die blieb. Verlässlich. Auf immer. Liebe. Verbundenheit. Wird nie wieder gehen. Wird verblassen. Muss festgehalten werden, herausgerufen. Immer wieder. 


Kunst. Die Großmütter, Mütter und Töchter sind uns beigestanden in der Grotte der Niki de Saint Phalle. Manche draußen verharrend, manche neben uns spürbar verweilend, alle beistehend, auf ihre Weise. Von Angesicht zu Angesicht. Auge zu Auge ein klarer Blick, verstehend, stilles, nickendes, tröstendes, ewiges Übereinkommen.


Kinder! Erwachsen nun wie ihr. Erwachsen wie ihr damals. Erinnerungen an die Tage des Verlassens, des Verlassenwerdens, des Verlorenseins.

Und wieder sind alle zur Seite.


Gedanken an die Zukunft.

Visionen: Ich gehe zu deiner Haustür. Warum zu deiner? Warum nicht zu der deiner Schwester? Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre es möglich. Wäre das ein Unterschied?  


…In mir ist dieses Bild. Ich habe es mir lange kontur- und farblos zugemutet, verschwommen, blass, verwischt. Jetzt ist es reif…

Ich stehe vor deiner Türe. Mein Finger auf der Klingel. Hinter mir, neben mir, ich. Ich im Kreis der unsichtbaren Mütter meiner Familie. Da stehen wir. Hinter der Türe Kinderstimmen. Fremd und unwirklich bekannt. Warum ist das so? Ich höre mich klingeln. Ich höre deine Schritte. 

Hier fällt das Bild in sich zusammen, erlöst mich. Weiteres ist noch nicht in der Welt, noch kann nicht mehr davon bleiben.


Eine unvorstellbare Überraschung! … ein anderes Bild, ebenso dynamisch, ebenso endlich … Ich bekomme Post! Eine Karte, Geburtstagseinladung oder Hochzeit? Oder eine Graduierungsfeier? Oder einfach so? Auf der Karte steht ein Datum, eine Uhrzeit, ein Ort. Es ist eine Einladung! Ich bin erwünscht. Es ist eine Erlaubnis. Ich darf kommen. Ich darf sein. Da werden auch die Kinder sein, Eure Kinder, ich weiß es! Ich hoffe es. Die Karte ist von Dir! Oder ist sie von deiner Schwester? Hier geht’s nicht weiter.


Soweit ist es schon in der Welt. Ein Weg ist bereitet, noch nicht begangen. Ich bin vorsichtig, ich ebne den Weg so gut ich kann. Ich finde Steine, die sind schwer und scharfkantig. Ich kann sie nicht beiseite schaffen. Doch ich finde einen Weg drumherum, ich bin sicher. Vertraue mir.

Bitte…


Ich steige um an einem Bahnhof.


In dieser Stadt waren wir im Zoo. Es war anders als damals, als ihr Kinder wart. Die gleichen Tiere, ein Zoo ist ein Zoo, egal an welchem Ort.


Damals: Begeisterung, Aufregung, Aufpassen, niemanden verlieren in der Kindermenge mit Begleitung. Futter kaufen. Tränen trocknen. Enttäuschung in Erwartung umwandeln und am Spielplatz vorbeireden. Freuen wir uns auf die Nilpferde! Was ist ein Nilpferd? Hungergefühle bemerken, besser noch vorbeugen. Die Zeit im Auge behalten.


Heute: Kinderhände, fremde, an der Glasscheibe. Begeisterungsspuren auf verschmiertem Panzerglas. Das Nilpferd, der fette Hintern, der Ballettbeinchentanz im trüben Wasser, Masse und Grazie. Das offene Maul, fliegende Salatköpfe. 

Zu Hause googeln: Was frisst ein Nilpferd?


Damals Konzentration und vorausdenken. Um Euch zu beschützen. Vor dem Verlorengehen, vor einem Fallen und Stürzen, dem tatsächlich körperlichen und auch dem seelischen. Vor den Gespenstern später in der Nacht. So ein Nilpferd kann beängstigend sein! Auch die Eisbären und die Pinguine und die Affen. Oder einfach zu viel, was insgesamt dasselbe bedeutet. Rechtzeitig nach Hause fahren!


Heute Mitgefühl. Der Schimpanse, der mich tief berührt. Ich sehe seine Augen. Ich blicke gefühlt in eine Tiefe. Die Nilpferde! Sie bezaubern mich, das Leben ist ein Wunder. Damals wie heute und trotzdem ganz anders. Gedanken an und dann über Freiheit, Respekt, Verantwortung, Verbindung (wieder sind sie alle da). 

Mütter, Väter, Kinder unter meiner Beobachtung. Was ist anders, was immer gleich? Ich bekomme ein Bild aus meinem Inneren, ich sehe Euch im Zoo, mit Euren Kindern, ich weiß was ihr fühlt, ich weiß, was ihr denkt. 


Es ist schon so lange in der Welt, es wird niemals gehen.


Ich fahre in den Bahnhof ein. 

Ich bin zu Hause.


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